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*Von Martin Andree*

Dass Musks Twitter-Übernahme momentan die Schlagzeilen dominiert, ist an sich schon der Reflex einer selektiven journalistischen Wahrnehmung, denn Twitter ist in der digitalen Mediennutzung ziemlich unbedeutend. Nur 0,4 Prozent der gesamten digitalen Nutzungszeit entfällt auf Twitter. Selbst wenn wir ausschließlich Social Media betrachten, ist Twitter ebenfalls recht klein. So erzielt Twitter nur 2,9 Prozent der Nutzungszeit im Vergleich zu den Angeboten von Meta. Interessanterweise lässt sich das Missverhältnis auch an den Umsätzen in ähnlichen Proportionen ablesen: Twitters Gewicht im Verhältnis zu Meta beträgt nur 4,2 Prozent.

##### Zum Autor

Martin Andree unterrichtet digitale Medien an der Uni Köln. Er ist u. a. Verfasser des „[Atlas der digitalen Welt](www.atlasderdigitalenwelt.de)“ (Campus 2020), der ersten „Nullmessung“ der digitalen Mediennutzung in Deutschland.

Denn Twitter besetzt die Nische einer Opinion-Leader-Plattform – geschätzt vor allem von Politikern, Bloggern, Professoren, Journalisten, Intellektuellen und Netzenthusiasten. Dass die Übernahme der Plattform in den Ökosystemen der Opinion Leader so beklagt wird, als würde das Internet selbst verkauft, ist also erst einmal die Folge einer publizistischen Blase. Denn in der Netzrealität selbst spielt Twitter nur eine untergeordnete Rolle.

##### Was hat Elon Musk mit Twitter vor?

Das ist erst mal eine Nachricht mit doppelt positiven Potenzialen. Zunächst einmal ist das Gewicht und damit auch der potenzielle Schaden dieser Übernahme begrenzt. Aber möglicherweise kann diese Akquisition einen gesellschaftlichen Sinneswandel katalysieren, genau *weil* es sich um den digitalen Liebling von Netzenthusiasten handelt.

Dort fragt man sich aktuell, was Elon Musk denn mit der Plattform vorhat. Eine Antwort lässt sich im Kontext des allgemeinen Vorgehens der Digitalkonzerne extrapolieren. Ihre Kernmotivation besteht darin, eine überkommene, analoge Welt durch ihr vermeintlich besseres, digitales Universum zu ersetzen. Genau in diesem Sinne sehen sie sich als Revolutionäre, die eine überkommene Offline-Ordnung durch die digitale Transformation abschaffen werden – und diese neue digitale Welt zu beherrschen trachten („Dominance!“ in den Worten von Mark Zuckerberg).

Auf ihrem Vormarsch sind die Digitalkonzerne bereits sehr weit fortgeschritten. Das können wir vor allem durch das Ausmaß der Ungleichverteilung des Traffics im Netz messen. Man kann sich das vorstellen wie eine Vermögensverteilung – auf einer Skala würde der Wert 0 eine Gleichverteilung darstellen (alle Menschen besitzen gleich viel), dagegen würde der Wert 100 die maximal denkbare Ungleichverteilung repräsentieren (eine Person besitzt alles, alle anderen nichts). Die Ungleichverteilung des deutschen Online-Traffics ist tatsächlich haarsträubend – der Wert beträgt unfassbare 98,8. Das Gros des Traffics wird von den Plattformen der Digitalkonzerne gebündelt. Plakativ gesprochen: Ganz wenige Player besitzen fast alles, der Rest so gut wie nichts.

##### So haben die Digitalkonzerne das Internet übernommen

Diese Unwucht zeigt sich auch in der Monetarisierung des Internets – denn mit dem Traffic des Internets verdienen aktuell fast nur die Digitalkonzerne eine Menge Geld, die anderen gehen weitgehend leer aus. Die existierenden Studien beziffern den Anteil der Tech-Riesen an den digitalen Werbespendings in den Ländern der westlichen Welt auf 80 bis 90 Prozent.

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Martin Andree sieht in der Twitter-Übernahme auch eine große Chance für die digitale Welt – Foto: privat

Die Digitalkonzerne haben diese Übernahme des Internets erreicht, weil sie massive Netzwerkeffekte für ihre Angebote ausnutzen konnten, die freien und fairen Wettbewerb ausgeschaltet haben. Sie haben die Akkumulation des Traffics in ihren Plattform-Silos nach Kräften maximiert, etwa durch Ausnutzung der eigenen Gateways, wodurch Nutzer bevorzugt auf Angebote des eigenen Konzerns weitergeleitet werden. Zu demselben Zweck haben sie beispielsweise früh offene Standards abgeschafft. Ferner wurden Optionen für Outlinks auf den Plattformen weitläufig eliminiert, um den Traffic auf den eigenen Plattformen zu halten.

Um Musks Twitter-Deal nun richtig einzuordnen, muss man noch eine zweite Dimension verstehen, und zwar das ökonomische Vorgehen der Digitalkonzerne im Hinblick auf den Sales Funnel. Dieser ist für die Tech-Riesen deshalb so bedeutsam, weil der Großteil aller wirtschaftlichen Transaktionen unserer Gesellschaft in einer digitalen Welt genau darüber abgewickelt werden. Wer diesen digitalen Trichter beherrscht, beherrscht in Zukunft automatisch die gesamte Wirtschaft.

Jeder Marketeer kennt das Modell des Trichters, das veranschaulicht, wie über die verschiedenen digitalen Kanäle Verkäufe von Gütern organisiert werden. Schnell noch einmal erklärt: In der obersten Stufe des Trichters lenkt man erst die Aufmerksamkeit der Kunden auf ein Produkt. Dann zieht man sie über verschiedene Aktivitäten in diesem Trichter immer weiter nach unten. Man bespielt sie solange mit Werbung, bis sie sich für das Produkt interessieren, es schließlich begehren und am Ende kaufen.

##### Der Sales Funnel mit Amazon, Apple, Meta und Co.

Analysiert man die verschiedenen Angebote der Tech-Riesen in Relation zum Sales Funnel, wird sofort deutlich, dass sie die verschiedenen Stufen in diesem Trichter mit ihren marktbeherrschenden Angeboten besetzen. Im oberen und mittleren Trichter einerseits YouTube für Video-on-Demand sowie Facebook bzw. Instagram für Social Media, im unteren Trichter die Google-Suchmaschine, ganz unten dann Amazon für die Transaktion.

Dabei ist schon jetzt alarmierend, dass es sich bei den meisten dieser Angebote auf ihrem Feld um Quasi-Monopole handelt. Übrigens versteht man aus diesem Modell auch sofort die aktuellen strategischen Prioritäten der Digitalkonzerne. Amazon hat beispielsweise sein Imperium vom untersten Punkt im Funnel nach oben verlängert (Retail Media, also Werbung auf der Plattform ganz unten im Funnel) und versucht durch Amazon Prime, aber auch Twitch einen Fußabdruck im oberen Funnel zu entwickeln. Apple dagegen nutzt gerade seine starke Marktposition bei mobilen Endgeräten dazu, Wettbewerbern wie Meta den Zugang zu Daten abzudrehen und auf diese Weise ein eigenes datenbasiertes Werbeimperium aufzubauen.

> "Musks zentrale Zielsetzung dürfte darin bestehen, den Winzling Twitter in einen relevanten Social Media Player zu verwandeln."

Aus dieser Perspektive macht Musks Twitter-Übernahme dann Sinn – denn Musks digitales Ökosystem verfügt aktuell über gar kein relevantes Angebot in diesem Sales Funnel. Der springende Punkt ist ja, dass in einer datenbasierten digitalen Wirtschaft nur der Zugang zum Funnel den Zugang zu den wertvollen Daten liefert – und damit Macht weit über den Funnel hinaus und bis in die angebotenen Produkte selbst. Ein Beispiel kann das schnell illustrieren: Es verwundert dann nicht, warum Amazon über 80 Eigenmarken selbst produziert und in seinem E-Commerce-Universum vertreibt, denn es kann über die verfügbaren Daten die Kundenwünsche besser erkennen als jeder Hersteller. Amazon zeigt hier an, auf welche Weise die Tech-Riesen in Zukunft den Wert der Daten vertikal in immer neuen Wertschöpfungsebenen potenzieren können.

Auch für Elon Musk gilt, dass die zukünftige Expansion der digitalen Wertschöpfung vorwiegend aus diesem Funnel her erfolgen wird. Wer hier starke, idealerweise marktbeherrschende Stellungen besitzt, kann diese nach Belieben in immer neue Produkte und Geschäftsmodelle expandieren. Aber genau an dieser Stelle ist Musk blank. Umgekehrt stellte Twitter das einzige denkbare Akquisitions-Target dar, um ihm einen solchen Zugang zum Funnel zu ermöglichen.

Ob Musks Wette aufgeht, ist sicherlich ungewiss. In jedem Fall dürfte seine zentrale Zielsetzung darin bestehen, den Winzling Twitter in einen relevanten Social Media Player zu verwandeln. An dieser Aufgabe ist das vorherige Management jedoch konsistent seit Jahren gescheitert. Um relevante Nutzungszeiten zu erzielen, müsste Twitter also massiv verändert werden – zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten von Facebook und Instagram.

##### Twitter-Übernahme ein Problem, aber auch große Chance

Genau diesen neuen Wind spüren nun die vielen Twitter-Fans unter Journalisten, Bloggern, Professoren, Netzaktivisten – und bewerten die Übernahme deshalb besonders kritisch. Die Situation ist vor allem in Bezug auf den neuralgischen Punkt fast aller Netzpolitik besonders schwierig, und zwar der Frage nach den Gefahren einer möglichen Zensur als Folge von regulatorischen Eingriffen.

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[Ein Abo-Modell für Twitter ist überfällig](/article/ein-abo-modell-fuer-twitter-ist-ueberfaellig-3d593b58d294cf22c6bbe151e9ab8404)

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Die Digitalkonzerne haben solche gesellschaftlichen Ängste in der Vergangenheit immer wieder genüsslich für ihre eigenen wirtschaftlichen Ziele ausgeschlachtet. Plakativ gesprochen: Es gehe ihnen nur um „freedom of speech“, um „transparency“, um „empowerment“ und so fort, die durch jeden staatlichen Eingriff gefährdet würden. Es waren also gerade solche cyberenthusiastischen Positionen, die von den Digitalkonzernen gekidnapped und zu den Zwecken ihres eigenen Vormarschs missbraucht wurden.

Zugleich wurde aber schon in den letzten Jahren die Schieflage solcher Argumentationen mehr als offensichtlich. Denn nicht nur die Digitalkonzerne, auch die vielen neuen rechten Plattformen kaperten das gutgemeinte cyberintellektuelle Ideologem der „freien Meinungsäußerung“ und schufen neue, recht widerwärtige rechte Formate, die nun angeblich endlich „frei“ waren von „Zensur“, bis hin zu Trumps Truth Social. Und ausgerechnet hier hat nun auch Musk angesetzt, der nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass er die Twitter-Sperre von Trumps Account für einen Fehler hält. Kaum jemand verkörpert die Ideologie einer völlig unregulierten „zensurfreien“ digitalen Welt auf so radikale Weise wie Elon Musk.

Dass die Übernahme von Twitter ein Problem ist, wird erfreulicherweise jetzt auch von netzpolitischen Akteuren mit Besorgnis debattiert. Sicher, das ist richtig und begrüßenswert. Aber wir sollten uns eingestehen, dass die Twitter-Übernahme nur ein winziger Reflex eines viel größeren, allgemeineren Problems darstellt: Der fortschreitenden Übernahme des Internets durch eine Handvoll Digitalkonzerne.

Genau darin liegt aber eine große Chance. Denn vielleicht hilft ausgerechnet diese Twitter-Akquisition, überkommene ideologische Barrieren zu überwinden und zu einem neuen, vorurteilsfreien gesellschaftlichen Diskurs über die offensichtliche Bedrohung unserer Mediendemokratie durch digitale Monopole zu finden.

##### Naht die Rückeroberung des Internets?

Gegen die Urheberrechtsreform gab es riesige Proteste und Demonstrationen. Die seit mindestens zehn Jahren unübersehbare, schleichende Übernahme unseres Mediensystems durch die Digitalkonzerne interessiert dagegen bis heute niemanden, obwohl sie doch empirisch bis ins letzte Detail belegt ist. Wir haben alles getan, um das Netz gegen Zensur zu schützen. Aber gleichzeitig haben wir es einer Handvoll US-Konzerne gestattet, sich unbesehen einen immer größeren Teil des ehemals freien Internets einzuverleiben. Deren selbsternannte Philanthropen und Freiheitskämpfer erweisen sich immer mehr als Darth Vader – das lässt sich seit Elon Musks Übernahme kaum mehr verdrängen.

Genau hier könnte das positive Potenzial der aktuellen Situation liegen: Vielleicht stellt die Twitter-Übernahme einen Tipping Point dar. Vielleicht wird sie zum Ausgangspunkt eines Bewusstseinswandels – und eines neuen digitalen Aufbruchs, durch die sich die westlichen Gesellschaften das freie Internet zurückerobern werden. In jedem Fall wird es allerhöchste Zeit, das Thema auf die politische Agenda zu bringen.

Was der Twitter-Deal von Elon Musk über die Lage der digitalen Welt verrät