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Wochenrückblick

Die unrühmliche Medien-Karriere der "Stammbaumrecherche"

Die Verwendung des Begriffs "Stammbaumrecherche" zeigt leider, wie wenig lernfähig Medien sind. Bei der "Rheinischen Post" wird Schülern auf die Finger geschaut. Enttäuschte Mitarbeiter wenden sich öffentlichkeitswirksam von ihren Medien ab und Boris Palmer hat Besseres zu tun. Die MEEDIA-Wochenrückblick-Kolumne.

Stefan Winterbauer17.07.2020 13:55
Stefan Winterbauer –
Stefan Winterbauer – Illustration: Bertil Brahm

Mit echten oder scheinbaren Krawallnächten haben Medien häufiger mal Probleme. Wir erinnern uns an den angeblichen "Flüchtlingsmob" anno 2017. Bei einem Volksfest in dem baden-württembergischen Nest Schorndorf sollten 1.000 junge Leute randaliert haben. Dabei waren rund 1.000 Leute anwesend. Ein feiner Unterschied. Auslöser war damals eine missverständliche Pressemitteilung der Polizei, die von der dpa falsch wiedergegeben und in Medien und Social Media für reichlich Wallung sorgte. Den "Mob" gab es nicht und die dpa entschuldigte sich. Aktuell machte das unschöne Wort "Stammbaumforschung", bzw. "Stammbaumrecherche" die mediale Runde, das dem Stuttgarter Polizeipräsidenten Frank Lutz zugeschrieben wird. Zugeschrieben deshalb, weil er es nicht gesagt hat. Es geht um die Aufarbeitung der tatsächlichen Krawallnacht in Stuttgart vom 20. auf den 21. Juni in diesem Jahr. Am 9. Juli gab Polizeipräsident Lutz in Stuttgart Infos zum Stand der Ermittlungen. Dabei ging es auch darum, ob und wieviele der Randalierer Migrationshintergrund hatten. Um das zu ermitteln, bedürfe es "letztendlich Recherchen bundesweit bei den Standesämtern", so Lutz wörtlich. Der Stuttgarter Stadtrat Marcel Roth (Grüne) schob ihm dann in einem Facebook-Post unter, er habe angekündigt, mit Hilfe der Landratsämter deutschlandweit "Stammbaumrecherche" zu betreiben. Die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten machten daraus die Schlagzeile "Polizei betreibt Stammbaumforschung der Tatverdächtigen", nachdem die dpa die Berichterstattung der beiden Zeitungen aufgriff , nahm die Berichterstattung nochmal gehörig Fahrt auf. Wobei die dpa sogar von Beginn an schrieb, dass ein Sprecher der Stadt Stuttgart erklärte, dass die Polizei keinen "Ahnen- oder Stammbaumforschung" betreibe. Wenn es schon keine deutschlandweite "Stammbaumrecherche" gab, so dann doch immerhin eine deutschlandweite Verbreitung dieses toxischen Begriffs. Denn natürlich schwingen bei "Stammbaumrecherche" im Hinterkopf NS-Assoziationen mit. Das ist nicht einfach nur "zugespitzt", wie Marcel Roth später gegenüber der Kontext Wochenzeitung erklärte, das ist böswillig und gefährlich. Die ganze Geschichte ist leider auch wieder bezeichnend dafür, dass Medien offensichtlich lernunfähig sind. Siehe Schorndorf. Immer und immer wieder funktionieren die gleichen Reflexe wenn vermeintlich skandalöses Schlagzeilenmaterial auftaucht und von Social Media verstärkt wird. Nicht fragen, sondern abschreiben und weiterverbreiten, lautet leider die gängige Devise. Damals bei Schorndorf genauso wie heute bei Stuttgart und in vielen weiteren Fällen.

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