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„Einfältiger Depp“: SPON-Ressortchef lästert bei Twitter nach Spiegel-Interview über krebskranken Michael Jürgs

Michael Jürgs
Der Buchautor und frühere stern-Chefredakteur Michael Jürgs hat dem Spiegel ein Interview gegeben. Über seine lebensbedrohliche Krebserkrankung war im Sommer 2018 vielfach berichtet worden, ebenso vorvergangene Woche über die Verleihung des Theodor-Wolff-Lebenswerkpreises an den Publizisten. Gegenüber dem Nachrichtenmagazin zieht der 73-Jährige nun Bilanz – und wird dafür ausgerechnet von einem Redakteur aus dem Haus im Social Web hart angegangen.
Am Samstagmorgen – der aktuelle Spiegel mit der Titelstory über mysteriöse schwarze Löcher im Weltall lag gerade druckfrisch in den Verkaufsregalen – veröffentlichte Janko Tietz, Chef vom Dienst bei Spiegel Online, einen Kommentar bei Twitter. In zwei Sätzen rechnete Tietz mit dem Interview ab, das Michael Jürgs den Print-Kollegen des SPON-Manns gegeben hatte. Er schreibt: „Dass Michael Jürgs Krebs hat, ist nicht schön. Ein einfältiger Depp ist er trotzdem.“
Tietz verlinkt dabei einen Passus aus dem Spiegel-Gespräch, in dem Jürgs sich zu dem kolportierten Grund seiner Entlassung als Blattmacher des stern äußert. Als damaliger Chefredakteur hatte der Hamburger 1990 ein Editorial zur Wiedervereinigung mit der provokanten Überschrift „Sollen die Zonis bleiben, wo sie sind?“ versehen. Der Spiegel zitiert Jürgs heutige Sicht darauf so: „Ich habe den Text neulich noch mal gelesen. Das war ein linksliberaler Leitartikel. (…) Wir träumten nicht von der deutschen Einheit. Wir fuhren nach Frankreich, wir folgen nach Amerika. Aber in die DDR?“
Weiter heißt es im abgedruckten Gesprächsprotokoll:
Jürgs: In meinem Text stand sinngemäß, passt mal auf, es sind nicht alle so nett und dissident im Osten. Es sind viele SED-Typen dabei. Geht nicht mit jedem gleich ins Bett. Damit lag ich, wie sich herausstellen sollte, gar nicht so falsch. Als die ersten Zonis nach dem Mauerfall vor der »Stern«-Redaktion in ihren stinkenden Trabis vorfuhren, habe ich die Kantine öffnen lassen. Die hatten Hunger.
SPIEGEL: Sehr großzügig. Zu essen hatten die Ostdeutschen schon auch.
Jürgs: Ja, aber Broiler und Sättigungsbeilage. Wir hatten was anderes anzubieten. Steaks und Pommes und Garnelen. Irgendwann rief mich der Pförtner an: Die wollen gern nach oben, um mal auf die Alster zu schauen. Sagte ich: Okay, lassen Sie sie rauf. Ich hatte in meinem Büro, siebter Stock, eine riesige Terrasse. Dort saß ich mit Kollegen bei der Planung fürs nächste Heft. Ich forderte alle auf, los, Geld auf den Tisch, das geben wir denen.
Die gerade aus der Retroperspektive irritierend gönnerhafte Schilderung von Jürgs kontern die Spiegel-Interviewer mit der Bemerkung: „Wenn man Sie so reden hört, ist es nicht verwunderlich, dass der Ruf des Westjournalisten im Osten gelitten hat.“ Dass Jürgs mit diesen und weiteren Aussagen nach der Veröffentlichung polarisieren würde, war also keine Überraschung.
Dass die Kritik angesichts der schweren Erkrankung von Jürgs (über die der Journalist im Interview ebenfalls spricht) so harsch und unversöhnlich ausfiel und zudem von einem Mitarbeiter der Spiegel-Gruppe öffentlich gemacht wird, führte zu einer weiteren Debatte – der um die Frage der in einem solchen Fall gebotenen Empathie. Zwar erntete der Tweet von Tietz einige Likes bei Kollegen aus dem Umfeld des Nachrichtenmagazins, des stern und sogar von dpa-Chefredakteur Sven Gösmann. Es gab aber auch Kritik am Jürgs-Kritiker:
Auch Bild-Chefredakteur Julian Reichelt meldete sich in der Sache zu Wort – ebenfalls via Twitter.
Der Urheber der Diskussion sah sich schließlich genötigt, Interpretationshilfe für sein aus Sicht vieler Leser missratenes Statement zu liefern. Warum Tietz die Krebserkrankung von Jürgs mit dessen weiteren Aussagen verknüpft hat, erklärt der Chef vom Dienst von Spiegel Online so: „Er äußert sich in dem Interview ausführlich zur Krankheit. Es ging um Differenzierung, dass ich ihn für die anderen Aussagen nicht für voll nehmen kann.“
Das komplette Spiegel-Interview mit Michael Jürgs (Paid Content) ist hier nachzulesen.