Publishing
„Soll man es lassen?“: Zeit-Politikaufmacher über Flüchtlingsrettung stößt auf massive Kritik von Politikern und Journalisten

Die Zeit hat sich in ihrer aktuellen Printausgabe der privaten Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer gewidmet. In einem Pro-und-Contra-Beitrag unter dem Titel „Oder soll man es lassen?“ bilden die Autoren die Debatte darüber ab, ob die private Rettung der Migranten „legitim“ sei. Im Netz hagelt es Kritik für die Wochenzeitung. Die Autoren und die Chefredaktion verteidigen den Beitrag.
Die Brisanz des Beitrages (Paywall) lässt sich unter anderem daran ablesen, dass sogar prominente Politiker den Artikel der Zeit kritisieren. Von einem „beängstigenden Titel“ spricht etwa Ralf Stegner (SPD). „Als ob es wirklich eine offene Frage wäre, Seenotrettung ja oder nein“, schreibt er auf Twitter.
Beängstigender Titel der ZEIT. Als ob es wirklich eine offene Frage wäre, Seenotrettung ja oder nein.
Seenotrettung ist humanitäre Pflicht. Alles anderenorts Barbarei!— Ralf Stegner (@Ralf_Stegner) 12. Juli 2018
Auch der Grünen-Politiker Konstantin von Notz zeigt sich im Social Web empört:
DIE ZEIT – wo es zu der Frage Männer, Frauen und Kinder aus Seenot zu retten, Pro und Contra Artikel gibt……
— Konstantin v. Notz (@KonstantinNotz) July 12, 2018
Die Leitfrage des Beitrages finden auch viele Journalisten-Kollegen verwerflich. Ob die Seenotrettung „legitim“ ist oder nicht, stehe nach Meinung der Kritiker nicht zur Diskussion. Bento-Redationsleiter Ole Reißmann etwa twittert:
Ja, lasst so einen Mist mal ganz schnell wieder @DIEZEIT https://t.co/Ac96pohRnJ
— Ole Reißmann (@oler) July 12, 2018
Hannah Beitzer und Meredith Haaf von der Süddeutschen schreiben:
Dear sonst so geschätzte @diezeit: Ihr habt doch den Arsch offen. An dieser Stelle möchte ich gern noch einmal an diesen Text von @wluef erinnern. https://t.co/e9k499zq6n https://t.co/n9FmKYWZeL
— Hannah Beitzer (@HannahBeitzer) July 12, 2018
Wer Seenotrettung in ein „moralisches Zwischenreich“ verschieben will, erlebt offensichtlich selbst einen inneren moralischen Zusammenbruch.
— Meredith Haaf (@MeredithHaaf) 12. Juli 2018
Und Titanic-Chefredakteur Tim Wolff meint:
Wer bei der „Zeit“ arbeitet und nach diesen Sätzen von Mariam Lau, ja, eigentlich allein wg. des Nussschalen-Jokus‘, ihr nicht täglich brühend heißen Kaffee ins Gesicht kippt, ist für mich moralisch gestorben. pic.twitter.com/0HbNBeV8aw
— Tim Wolff (@titatimwo) July 12, 2018
Der erfolgreichste Tweet stammt von Spiegel-Online-Kolumnistin Margarete Stokowski. Sie zieht Parallelen zu einem Artikel der Bild-Zeitung, die die Frage vor drei Tagen ebenfalls aufwarf:
Als die Bild-Zeitung vor zwei Tagen diese Frage gestellt hat, dachte ich, ok es ist schlimm, aber die Bild ist ein hetzender Haufen Aasgeier, ich bin nicht überrascht – aber heute macht die ZEIT einfach DASSELBE. Was für ein kalter, verdorbener Wahnsinn ist das pic.twitter.com/esmp8ELHAC
— Margarete Stokowski (@marga_owski) 11. Juli 2018
Dass der Beitrag über die Seenotrettung auch in der Redaktion nicht ganz unumstritten war, räumt Politik-Leiter und Vize-Chefredakteur Bernd Ulrich auf Twitter ein. In einem Tweet reagiert er auf die Frage des ehemaligen Piraten-Politikers Christopher Lauer, wie das Pro-Contra zustande kam und ob es „wenigstens eine hitzige Diskussion“ gab. Er schreibt: „Natürlich gab es Diskussionen. Man kann der Meinung sein, dass es zur pol Legitimität der Seenotrettung keine zwei Meinungen geben kann. Es gibt sie aber. Darum stehen sie im Blatt.“
Natürlich gab es Diskussionen. Man kann der Meinung sein, dass es zur pol Legitimität der #Seenotrettung keine zwei Meinungen geben kann. Es gibt sie aber. Darum stehen sie im Blatt. Wie ich selber in dieser Frage stehe, muss ich hier ja nicht erläutern.
— Bernd Ulrich (@berndulrich) 12. Juli 2018
Im Fokus der Diskussion steht insbesondere die Autorin Mariam Lau, die sich auf die Contra-Seite gestellt hat. Sie argumentiert in ihrem Text, dass die privaten Retter längst Teil des Geschäftsmodells der Schlepper seien – und damit das Problem nur verschärfen würden. Auch politisch hält sie die private Seenotrettung für falsch: „Wer mit dem Verweis auf Menschenrechte jede Sicherung der Grenzen zu verhindern versucht, wird am Ende denen in die Hände spielen, die gar kein Asylrecht mehr wollen.“ Unter anderem kritisiert Rico Grimm, der Leiter von Krautreporter, die Sichtweise der Autorin:
Mariam Lau versucht wirklich zu argumentieren, dass Seenotretter nichts zum Problem des Ertrinkens im Mittelmeer beizutragen haben. Den offensichtlichen Beitrag lässt sie unter den Tisch fallen: Sie retten Menschen vorm Ertrinken! /3
— Rico Grimm (@gri_mm) 12. Juli 2018
T-online Reporter Jonas Schaible kritisiert insbesondere die Kernfrage, die der Zeit-Artikel aufwirft:
Ich habe vor allem ein Problem mit dem Text von @mariamlau1: Selbst wenn jedes Wort stimmte, das sie schreibt, beantwortet sie die (ja, moralische) Kernfrage nicht, wie viele Menschen man in der Zwischenzeit ertrinken lassen soll, bevor Staaten das Retten (vielleicht) übernehmen.
— Jonas Schaible (@beimwort) 12. Juli 2018
Die meisten Nutzer haben bereits ein Problem damit, dass die Frage nach der Legitimität der Seenotrettung überhaupt gestellt wird. Allerdings geht es in dem Artikel nicht um die allgemeine Rettung der Flüchtlinge im Mittelmeer. Dagegen argumentiert bei der Zeit niemand. Es geht eher darum, wer für die Rettung verantwortlich ist und wohin die aufgenommenen Flüchtlinge gebracht werden – ein rein politisches Problem. Insofern ist die Zeile des Aufmachers unglücklich formuliert, der Titel zu sehr zugespitzt. Das muss sich am Ende auch die Autorin eingestehen:
Wie gesagt. Bis wir bessere Lösungen haben, muss Frontex retten – aber nicht Private, die illegale Migration nach Europa ermöglichen.
— Mariam Lau (@MariamLau1) 12. Juli 2018
Passiert immer wieder. Der Titel spitzt zu, der Text dröselt auf. Man muss sich mit einer gewissen Kälte über das Thema beugen, @marga_owski und sich Frage. nach den Folgen des gutgemeinten Handelns vorlegen. Was es, zum Beispiel, für Italiens Demokratie bedeutet hat.
— Mariam Lau (@MariamLau1) 12. Juli 2018